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Interview: «Überall, wo die Kirche diskriminiert, liegt sie falsch.»

Interview

«Wir sind unseren Mitgliedern Rechenschaft schuldig»

Die katholische Kirche ist am härtesten von Austritten betroffen – die Gründe dafür sind vielseitig. Ein Gespräch mit dem Präsidenten der katholischen Kirche Aargau über die Probleme und Lösungen der grössten konfessionellen Gemeinschaft der Schweiz.
22.01.2023, 17:3022.01.2023, 17:31
Anna Böhler
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Zur Person
Luc Humbel ist Präsident der römisch-katholischen Landeskirche Aargau.

Herr Humbel, wie steht es um die katholische Kirche in der Schweiz?
Luc Humbel: Die katholische Kirche der Schweiz sowie auch die Weltkirche sind von einer Glaubens- und Glaubwürdigkeitskrise betroffen – und haben dies inzwischen erkannt. Es laufen weltweit – auch in der Schweiz – Bestrebungen, diese zu erneuern und zurück zur Glaubwürdigkeit zu finden.

Welches sind die Gründe für die Glaubenskrise?
Megatrends wie die Säkularisierung – die Loslösung von der Kirche – und die Individualisierung, von der alle Bereiche der Gesellschaft betroffen sind. Es betrifft auch den Turn- und andere Vereine: Es ist nicht mehr so cool, irgendwo lebenslang Mitglied zu bleiben. Man ist projektorientierter, denkt kurzfristiger.

«Überall dort, wo man das Gefühl hat, die katholische Kirche sei im vorletzten Jahrhundert stehen geblieben, gibt es Diskussionsbedarf.»

Und weiter?
Früher wurde Zuhause ab und zu ein christliches Lied gesungen oder vor dem Essen gebetet – das ist heute anders. Glauben wird inzwischen anders praktiziert, was dazu führt, dass seine Weitergabe in der Familie abbricht. Das ist sogar noch gefährlicher als die Austritte. Denn so müssen die nächste und übernächste Generation gar nicht austreten, weil sie nie getauft wurden und somit nie eingetreten sind.

Eine «Glaubwürdigkeitskrise» löst das aber noch nicht aus. Woher kommt diese?
Sie lässt sich ganz klar auf die Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche zurückführen.

Durch solche Fälle treten immer mehr Menschen aus der Kirche aus. Wie läuft das ab?
Ein Austritt verläuft immer in zwei Schritten: Zuerst kommt die Entfremdung von der Institution Kirche. Man praktiziert und partizipiert nicht mehr daran. Vielleicht bezahlt man noch die Kirchensteuer aus der Überzeugung, sie werde gut eingesetzt.

Und der zweite Schritt?
Angenommen, eine Person hat sich bereits von der Kirche entfremdet und spürt eine Distanz. Dann braucht es nur noch eine Schlagzeile zu einem Missbrauch und die Person tritt aus der Kirche aus. Wenn etwas Negatives geschieht, legitimiert das den Austritt. Früher war dieser noch stärker stigmatisiert, heute ist es keine grosse Sache mehr.

Personen hoeren die Saenger des Gospelchor Anthony Singers waehrend der Lange Nacht der Kirchen, am Freitag, 28. Mai 2021 in der Katholische Kirche Bern-West in Bern. (KEYSTONE/Anthony Anex)
Jung und Alt gehen gemeinsam in die Kirche.Bild: keystone

Was unternimmt die katholische Weltkirche gegen diese Tendenz?
Papst Franziskus hatte 2021 zu einer Synode aufgerufen. Jeder Gläubige, von egal wo auf dieser Welt, durfte in einem ersten Schritt dieses Prozesses seine Anliegen äussern. Alle Leute konnten mitteilen, welche Veränderungen sie sich von der katholischen Kirche wünschen und welche Glaubenssätze überdacht werden müssen.

Was kam dabei heraus?
Frauenordinationen und Gleichberechtigung scheinen die Gläubigen stark zu beschäftigen – auf der ganzen Welt. Sexualmoral, Macht und Transparenz sind ebenso wichtige Themen. In Prag findet im Februar eine europäische Versammlung statt, um die Anliegen der verschiedenen Länder zu vergleichen und in einem grossen Bericht zusammenzufassen. Am Schluss gibt es eine Synode im Vatikan, an welcher man sich mit diesen Fragen auseinandersetzen will.

Zu meiner Überraschung sind die fehlende Gleichberechtigung und Diskriminierung nicht nur für die westlichen Katholiken ein Problem, sondern weltweit. Überall dort, wo man das Gefühl hat, die katholische Kirche sei im vorletzten Jahrhundert stehen geblieben, gibt es Diskussionsbedarf.

«Wir sind unseren Mitgliedern Rechenschaft schuldig, was mit ihren Steuergeldern geleistet wird.»

Was erwarten Sie von der Synode im Vatikan?
Die Erwartungen an dieses Treffen sind hoch und die Gefahr, enttäuscht zu werden, dementsprechend auch. Es gibt viele konservative Stimmen: Die Ostkirche will beispielsweise nicht, dass man Frauen ordiniert – sie also zu Pfarrerinnen oder Priesterinnen macht.

Was passiert in der Schweiz?
Einiges. Ein Beispiel für eine vertrauensbildende Massnahme ist das Bistum Basel, wo wir eine Ombudsstelle schaffen wollen. Dort können sich Menschen mit einer Beschwerde ausserhalb der kirchlichen Machtstruktur melden.

Fallen Ihnen weitere Beispiele ein?
Wir haben die Webseite kirchensteuern-sei-dank.ch lanciert. Hierbei geht es darum, transparent aufzuzeigen, wo das Geld aus der Kirchensteuer hin fliesst. Wir sind unseren Mitgliedern Rechenschaft schuldig, was mit ihren Steuergeldern geleistet wird. Wir müssen als Kirche lernen, darüber zu sprechen, was wir machen. Es ist nicht besonders katholisch, davon zu erzählen, wenn man Gutes tut.

Und, wo fliesst das Geld hin?
85 Prozent der Kirchensteuer, die ich bezahle, bleibt in meiner Kirchengemeinde. Je nach Kanton variiert diese Zahl, mindestens 75 Prozent bleiben aber immer vor Ort.

«Die Ungleichbehandlung der Frauen stört mich als Katholik. Ich kann entweder aktiv daran arbeiten, dass etwas anders wird, oder resignieren.»

Wofür geben die Gemeinden das Geld aus?
Das meiste für Personalkosten. Wenn ich – aus welchen Gründen auch immer – keine Kirchensteuer mehr bezahlen will, dann fehlt dieses Geld in der kirchlichen Arbeit. Dort, wo ich lebe. Genau dort geschieht aber die Wertschätzung durch Senioren- und Jugendarbeit: Pfadi, Blauring, kirchliche Sozialdienste und natürlich die Seelsorge.

Muss die Kirche darüber hinaus nicht einige Werthaltungen überdenken, um wieder näher am Menschen zu sein?
Die katholische Kirche ist bis heute der Auffassung, die Nachfolge Jesu könne nur ein Mann sein. Dem stimme ich – so wie die meisten Schweizer Katholiken – nicht zu. Aber das können wir nicht ändern, so etwas muss auf weltkirchlicher Ebene geändert werden.

ARCHIV - Papst Franziskus kritisiert die Vorf�lle in Washington. Foto: Tiziana Fabi/AFP Pool/AP/dpa
Papst Franziskus hat eine Synode einberufen.Bild: sda

Sorgt das manchmal für Frust?
Das würde ich nicht sagen. Ich plädiere dafür, dass man die Ungeduld nicht verliert. Die Ungleichbehandlung der Frauen stört mich als Katholik. Ich kann entweder aktiv daran arbeiten, dass etwas anders wird, oder resignieren.

Und für welche Option haben Sie sich entschieden?
Ich arbeite darauf hin, dass solche Dinge nicht mehr überall gleich sein müssen – Stichwort Dezentralisierung. Auch andere Dinge, wie beispielsweise die Taufe, werden nicht überall gleich gemacht.

Braucht es das überhaupt? Vielen Menschen ist die Religion nicht mehr wichtig.
Ich denke nicht, dass sich die Bedürfnisse des Menschen wesentlich geändert haben. Ich glaube, dass alle Menschen etwas Religiöses in sich haben und dies einfach unterschiedlich ausleben.

«Ich glaube, dass alle Menschen etwas Religiöses in sich haben und dies einfach unterschiedlich ausleben.»

Was war früher anders als heute?
Früher gingen mehr Leute in die Kirche – aber nicht, weil sie gläubiger waren als heute. Mein Grossvater beispielsweise ging jeden Sonntag an die Messe – mit einer klaren Begründung: Er war Käser und machte in der Kirche jeweils die besten Geschäfte.

Das Zusammenkommen und auch der gesellschaftliche Druck waren früher Argumente, in die Kirche zu gehen. Ich glaube wirklich nicht, dass die Schweiz vor 50 Jahren gläubiger war, als sie heute ist.

Aber?
Heute gibt es viele Alternativen zur Kirche am Sonntag, man kann auch andere Dinge unternehmen.

«Die Kirche traut sich nicht mehr, ihre Stimme zu erheben. Wenn sie dann doch etwas sagt, hat sie Angst, auf den Deckel zu bekommen.»

Woher kommt diese Denkensweise?
Die Kirche hat sich zu stark aus dem gesamtgesellschaftlichen Kontext entfernt. Die Kirche traut sich nicht mehr, ihre Stimme zu erheben. Wenn sie dann doch etwas sagt, hat sie Angst, auf den Deckel zu bekommen, wie bei der Konzernverantwortungsinitiative.

Deshalb sagt sie lieber nichts, statt sich dem Vorwurf auszusetzen, politisch zu sein. Die Kirche ist nun mal politisch – wenn das Evangelium nicht politisch ist, weiss ich nicht, was sonst politisch sein soll.

Wo finden Sie, ist die Kirche fortschrittlich?
Der Kanton Aargau hat während 20 Jahren versucht, eine Notschlafstelle aufzubauen. Dann hat sich die Kirche dem Problem angenommen – seit drei Jahren haben wir nun eine Notschlafstelle im Kanton. Dasselbe geschah damals bei den Spitälern – auch hier hat die Kirche den Anfang gemacht. Im Bereich der Diakonie – dem Dienst an Hilfsbedürftigen – war die Kirche immer schon fortschrittlich.

In einem Gang im Notfallzentrum des Inselspitals Bern stehen Betten und Rollstuehle bereit, aufgenommen am 8. April 2013 in Bern. Das Inselspital ist eine bedeutende Universitaetsklinik der Schweiz. E ...
Ein Gang im Inselspital Bern.Bild: KEYSTONE

Man setzt sich also für die Schwachen ein aber unterdrückt gleichzeitig Frauen und Minderheiten wie die LGBTQ-Community?
Ja, überall, wo die Kirche diskriminiert, liegt sie falsch und ist nicht glaubwürdig. Auch hier darf man die Ungeduld nicht verlieren. Was wir nicht wollen, sind scheinheilige Lösungen: Es reicht nicht, dass gleichgeschlechtliche Paare im Aargau gesegnet werden.

«Überall, wo die Kirche diskriminiert, liegt sie falsch und ist nicht glaubwürdig

Was müsste sich ändern, damit wieder mehr Leute aktiv der Kirche beitreten?
Wir müssen unsere Glaubwürdigkeit wieder zurückerlangen. Dafür müssen wir die Missbräuche innerhalb der Kirche aufarbeiten und uns als Teil der Gesellschaft verstehen, der nicht ausserhalb davon in einem separaten Bereich steht. Als Teil der Gesellschaft ist es selbstverständlich, dass man niemanden diskriminiert und alle Menschen gleich behandelt.

Letztendlich geht es darum, dass es wieder attraktiv sein soll zu sagen, man sei Mitglied der katholischen Kirche. Man soll es gerne sagen und sich nicht dafür schämen.

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87 Kommentare
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wurzeli
22.01.2023 18:07registriert April 2020
Sie mögen vielleicht recht haben, Herr Humbel, und die Ortskirchen machen auch oft einen guten Job.

Wir Nichtreligiöse sind aber schon einen Schritt weiter: Gehören Senioren-, Jugendarbeit etc. wirklich in die Hände von religiösen Vereinigungen ? Ich persönlich würde lieber statt Kirchensteuern etwas mehr Gemeindesteuern zahlen und wäre dann sicher, dass diese Tätigkeiten durch Nichtreligiöse erledigt werden. Und notabene auch von Leuten, die demokratischen Prozessen unterliegen.
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Herr Ole
22.01.2023 18:26registriert Dezember 2017
Mehr Bildung -> weniger Glauben
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Händlmair
22.01.2023 19:15registriert Oktober 2017
„Glauben wird inzwischen anders praktiziert, was dazu führt, dass seine Weitergabe in der Familie abbricht. Das ist sogar noch gefährlicher als die Austritte. Denn so müssen die nächste und übernächste Generation gar nicht austreten, weil sie nie getauft wurden und somit nie eingetreten sind“.

Was ist daran gefährlich? Genau so sollte es sein! Jeder Junge Erwachsene kann ab 16 selber entscheiden, ob er Glauben und einer Kirche beitreten will. Zum Glück ist die Zeit vorbei, als die Kirche überall eingemischt hat, nur um dafür zu sorgen, dass niemand aus dem Fangnetz der Kirche fällt!
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